aus dem Archiv: Neulich in der Post

Was finden Sie alles in Ihrem Briefkasten? Ich vermute, bei Ihnen ist es ähnlich wie bei meinem an der Tür: Da sind vor allem geschäftliche Post wie Rechnungen, Drucksachen und Zeitschriften drin. Gerade über die Ferienzeit kam da so einiges zusammen. Per Hand angeschriebene Karten und Briefe fallen dagegen richtig auf – die schaue ich immer zuerst an. Von einer Studienkollegin kam unlängst so ein schöner, seitenlanger Brief, wie zu der Zeit, als wir noch nicht schnell hin und her mailten.
Im Posteingang des Computers sind solche persönlich gemeinte Zeilen oft nicht sofort zu erkennen. Vor einiger Zeit habe ich eine „Geschichte zum Nachdenken“ erhalten. Da sie nicht nur an mich adressiert war, habe ich sie nicht gleich wahrgenommen und erst kurz vor dem Klick auf die Löschtaste überflogen:

Kurz zusammengefasst ging es in ihr darum, dass eine Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler dazu aufforderte, auf ein Blatt Papier zu schreiben, was das „Netteste“ sei, das sie über jeden anderen in der Klasse nennen könnten. Später fasste die Lehrperson diese Aussagen zusammen und machte für jeden in der Klasse ein persönliches Blatt. Als sie diese in der Klasse verteilte, lächelten nach kurzer Zeit alle. Überraschte Kommentare wie „Wirklich?“ oder „Ich wusste nicht, dass mich andere so mögen.“ waren zu hören. Später erwähnte niemand diese Listen wieder.
Manches Jahr später traf man sich an einer Beerdigung wieder. Die Eltern des Verunglückten zeigten der Lehrkraft anschliessend ein stark abgenutztes Blatt, zusammengeklebt und gefaltet. „Das wurde bei ihm gefunden. Wir dachten, Sie würden es erkennen. Unser Sohn hatte das sehr geschätzt.“ Im Gespräch mit den anderen aus der früheren Klasse wurde deutlich, dass wohl alle ihre Liste aufbewahrt hatten…

Mehr als einmal las ich diese Geschichte. Ja, sie machte mich nachdenklich: Ich frage mich, warum es mitunter schwer fällt, den anderen etwas ehrlich Nettes zu sagen? Erwarten wir, dass die anderen einfach merken, wie wir sie sehen, was sie uns bedeuten? – Oder ist „keine Kritik zu äussern“ schon ein Lob? – Oder ist das Positive so selbstverständlich, dass wir unser Augenmerk stärker auf das Störende legen? Ich bin überzeugt, wenn wir unseren Mitmenschen öfters etwas ehrlich Nettes sagen, wird das unseren Alltag freundlicher machen.

Pfarrer Frank Naumann
in: Wort der Woche, d’Region, 33, 2013