Es gibt mehr!

Seit über einem Jahr haben wir ein beherrschendes Thema. Wie viele andere, kann ich es bald nicht mehr hören. Doch ein Ende ist leider noch nicht in Sicht. Manchmal habe ich den Eindruck, es geht mir so wie dem berühmten Hasen, der – von der Schlange fixiert – sich nicht mehr wegbewegen kann, obwohl er könnte. Bin gebannt von den Schlagzeilen und lasse mich wie hypnotisieren.
Dann hilft mir oft nur noch, mich bewusst aus diesem Sog zu lösen. Die Sinne auf etwas anderes zu richten als auf das, was allen Platz einnehmen will. Gar nicht so einfach, aber es gelingt. Nicht immer, aber immer wieder. Der Versuch ist es wert!
Hier ein paar Beispiele. Ein Kollege erzählt mir am Telefon, dass er jetzt endlich einen lang gehegten Wunsch umsetzen konnte. Er war ihm wichtig, gerade in dieser Zeit etwas Kreatives zu wagen. Im Unterricht beindrucken mich die Jugendlichen, wie differenziert sie mit der Situation umgehen und dass sie trotz Einschränkungen auch Freiräume entdecken. Eine Geschäftsfrau berichtet hinter der Plexiglasscheibe, dass manche Verpflichtungen weggefallen sind und ihr das Zeit für anderes gibt. An einem Grab werden in kleinem Kreis Erinnerungen an den Verstorbenen geteilt und was ihm im Leben wichtig war. Freunde beschreiben am Video, was ihre Tochter unternommen hat, um das erste Semester von Zuhause aus zu meistern. Eine Kollegin erzählt auf einem Spaziergang, wie sich ihre Mutter im Betagtenheim eingelebt hat und welche Möglichkeiten sie als Familie nun haben.
In jedem dieser Gespräche kam die Pandemie auch vor und das, was sie mit uns macht. Und doch gab es mehr als diesen gebannten Blick auf Statistiken und Schlagzeilen. Das tut immer wieder gut und gibt mir neuen Mut!
Es gibt mehr! Einander zuzuhören ist für mich eine Kraftquelle. Sei es am Telefon oder bei einem Spaziergang, im Unterricht oder bei einer Begegnung mit Abstand. Und das Hören ist ja nur eine unserer Möglichkeiten. Da sind noch die anderen Sinne, die uns mit Hoffnungsspuren verbinden. Beispielsweise, wenn ich beim Mittagessen keine Nachrichten höre und mir Zeit nehme und den Geschmack der Mahlzeit geniesse. Oder da sind die ersten Zeichen vom Frühling: Sie bieten den Augen neue Farben und der Nase frische Düfte. Sie geben dem Tastsinn das zarte Gefühl von Neuem, wenn ich eine Knospe berühre, die sich nach dem Winter hervorwagt.
Mit allen Sinnen. Es gibt mehr als die Pandemie. Gott sei Dank!

Pfarrer Frank Naumann
in: Wort der Woche, d’Region, 11, 2021