Kirche ist mehr, da wir einen grossen Schatz an Geschichten haben. Für vieles haben wir eine gute Basis und müssen nicht bei null anfangen. Seit Generationen leben wir mit Erzählungen, die wir als «gute Nachricht», als «Evangelium» kennen: Sie geben Mut, wie bei den Fischern, die nach erfolgloser Nacht noch einmal anfangen. Sie stärken Vertrauen, dass fünf Brote und zwei Fische viele satt machen. Sie zeigen ein Vorbild wie das vom barmherzigen Samariter. Sie stimmen nachdenklich wie beim Tanz ums goldene Kalb. Sie machen Hoffnung wie das Beispiel vom Sämann.
Dieses Gleichnis ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Jedes Mal, wenn ich in die Stadtkirche komme, erinnert mich das farbenfrohe Fenster von Bruno Bischofsberger daran. Das Gleichnis macht den Blick weit. Es zeigt, was gelingt und gleichzeitig auch das, was sich nicht so entwickelt wie geplant. Genau da steckt für mich eine Lebensweisheit drin. Der Vergleich aus der Landwirtschaft zeigt einen anderen Umgang mit dem, wofür wir uns einsetzen. Klar hätten wir gerne, dass alles oder zumindest das meiste von dem, was wir tun, zu einem guten Abschluss kommt und gelingt. Klar wird das in unserer Leistungsgesellschaft erwartet. Das Gleichnis weist auf etwas anderes! Ein Teil vom dem, was wir vorhaben, kommt über den Anfang gar nicht hinaus. Kaum ist es da, ist es schon wieder weg. So wie das Saatgut, das von den Vögeln vom Weg gepickt wird. Ein weiterer Teil nimmt einen guten Start und scheint vielversprechend, doch dann kommt es ins Stocken, weil die Voraussetzungen nicht stimmen oder man nicht alles bedacht hat. Das gleicht den jungen Pflanzen, denen der Boden fehlt und die Hitze zusetzt. Wieder anderes beginnt richtig zu wachsen und gross zu werden. Doch dann wächst anderes im Alltag schneller, was auch immer das sein mag. Wie von Dornen wird Wertvolles überwuchert und erstickt.
Bei diesen drei Abschnitten auf dem Feld ist es wie auf dem Acker vom Leben, wenn es nicht so geht wie geplant oder erhofft. Daran erinnert das Gleichnis: Nicht alles, doch ein Teil gelingt. Ein Teil wächst, reift und bringt Frucht! Ein Teil wird richtig gut!
Sämänner und Säfrauen wissen darum, dass nicht alles so gelingt, wie sie das gerne hätten. Doch sie lassen sich nicht beirren und geben nicht vorzeitig auf. Sie bleiben dran – mit Geduld. Jedes Mal beginnen sie von Neuem in der Hoffnung, dass ihre Arbeit gelingt und gesegnet ist.
Gott sei Dank gibt es diesen grossen Schatz an Geschichten. Er ist ein wichtiger Grund dafür, dass Kirche mehr ist und bleibt.
Zuerst publiziert in der Kolummne «Kirche ist mehr» im «reformiert.» Oktober 2024