Von rechts nach links

Wer jetzt einen verspäteten Kommentar zu den Wahlen erwartet, liegt falsch. Von rechts nach links gehört zu einer Geschichte, die mich seit Jahren begleitet und in den letzten Wochen noch einmal an Bedeutung gewonnen hat. Die Geschichte hat ihren Ursprung in Afrika und handelt von einer Frau, die bis ins Alter zufrieden lebte. Und sie geht so:

„Diese Frau verliess das Haus nie, ohne eine Handvoll Bohnen einzustecken. Die nahm sie mit, um so die schönen Momente des Lebens bewusster wahrzunehmen. Für jede Kleinigkeit, die sie täglich erlebte, zum Beispiel einen fröhlichen Schwatz auf der Strasse, ein leckeres Brot, einen Moment der Stille, das freundliche Lächeln eines Menschen, eine gute Tasse Kaffee, eine wohltuende Begegnung, einen schattigen Platz in der Mittagshitze, das Zwitschern eines Vogels, eine gelungene Arbeit: für alles, was ihre Sinne und das Herz erfreute, liess sie eine Bohne von der rechten in die linke Jackentasche wandern. Manchmal waren es gleich zwei oder drei. Abends dann sass sie zu Hause und zählte die Bohnen in der linken Jackentasche und erinnerte sich. So führte sie sich vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war und freute sich. Und sie dankte Gott dafür. Und ihre Dankbarkeit stärkte die Zufriedenheit. Und sogar an einem Abend, an dem sie bloss eine Bohne zählte, war für sie der Tag gelungen…“

Wenn Sie das noch nicht ausprobiert haben, einen Versuch ist es wert. Und wenn Sie keinen Bohnen zu Hand haben, finden Sie sicher etwas anderes, das man „gäbig“ mitnehmen kann. Sich gegen Ende des Tages zu erinnern, macht einen Unterschied. Und sei es nur für einen kurzen Augenblick. Sie werden überrascht sein, was da wieder zum Vorschein kommt, was da über den Tag hin alles zusammen kommt, auch an Erfreulichem und Gutem. Und sei es noch so klein.

Schon im normalen Alltag erinnert mich diese Geschichte: Schau, da gibt es so viel zu entdecken, was im Grunde alles andere als selbstverständlich ist. In den letzten Wochen erlebte ich das noch einmal neu: Durch einen Bandscheibenvorfall bekam Alltägliches plötzlich einen anderen Stellenwert. Beispielsweise die Schuhe zu binden oder ein paar Meter zu laufen, waren mir bis jetzt keine Bohne wert gewesen. Das hat sich geändert! Inzwischen bin ich auf dem Weg der Besserung. Gott sei Dank. Ich bin gespannt, wie das weitergeht: was sich im Alltag noch alles entdecken lässt, wenn schon das Schuhe Binden alles andere als selbstverständlich wird.

Pfarrer Frank Naumann
in: Wort der Woche, d’Region, KW 48, 2019